Sonntag, 3. September 2017

Die Angst vor dem Misslingen und ein Gedicht von Ilse Kilic

Immer wieder höre ich von Kursteilnehmer/innen, dass sie Schwierigkeiten hätten, einen Text zu beginnen, dass sie regelrecht Angst vor dem leeren Blatt hätten, Angst, dass der Text misslingen könnte.
Ihnen allen möchte ich nachstehendes Gedicht der Wiener Schriftstellerin Ilse Kilic ans Herz legen. 
Ein Gedicht, oder überhaupt ein Text, darf „missglücken“. Keine Angst! „Es gibt keine Gelingen ohne Misslingen“.


Ich lege ein Wort ein für jedes Gedicht, das nicht glückt

Ich trinke Wasser, das Millionen Jahre alt ist.
Es war inzwischen Wolke oder Regen
oder befeuchtete die Lippe einer Großmutter,
brachte die Badewanne eines Babys zum Überlaufen,
wusch Kalk aus dem Felsen und fror einen Teich zu,
auf dem ich als Kind das erste Mal auf Schlittschuhen stand,
kann ja sein.
Ein bisschen bin ich da, wo ich bin.

Dann lese ich einen Text über Kriterien eines geglückten Gedichts.
Gleich stelle ich meine Haare auf, ja ich kann das,
ich lege die Stirne in Falten,
ich lege ein Wort ein für jedes Gedicht, das nicht glückt.
Ich brauche den Ort für das Stottern, Stolpern und Straucheln,
für den unmelodischen Schrei und auch für das große Bemühen.
Ich lege ein Wort ein für jedes Gedicht.

Es gibt kein Gelingen ohne Misslingen.
Ich bin jetzt da wo ich bin.
Ein bisschen bin ich. Auch selbst.



Quelle: http://www.dfw.at/1/kapitel45.htm 
Erstveröffentlichung: zeitzoo / halbjahr 2016 / www.zeitzoo.at

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